Verfassungsbeschwerden

Als Verein koordinieren wir die, im Falle unserer betreuten Bewegungen (wie z.B. der Letzten Generation) geführten Verfahren und dementsprechend auch Verfassungsbeschwerden. Zur Vorbereitung setzen sich im Regelfall diverse Expert:innen für Verfassungsrecht und Strafrecht zusammen, um die Begründung gemeinsam zu erarbeiten. Mitte August 2024 wurde die erste Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung von Sitzblockaden der Letzten Generation durch die Schauspielerin und Aktivistin Irma Trommer und die Kanzlei akm Rechtsanwält*innen aus Berlin erhoben.
Bereits sechs Wochen später wurde erneut Verfassungsbeschwerde gegen die Kriminalisierung von Sitzblockaden erhoben – diesmal von der 59-jährigen Physiotherapeutin Susanne Brelowski aus Berlin.

Ersten Verfassungsbeschwerde der Letzten Generation

In diesem ersten Fall, der am 15. August 2024 beim Bundesverfassungsgericht eingereicht wurde, geht es um ein ursprüngliches Urteil des Amtsgericht Tiergarten vom 6. Juni 2023. Nachdem Berufung am Landgericht Berlin und Revision vor dem Kammergericht gescheitert sind, wird nun das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall beschäftigt werden. Das Urteil erging für beide Fälle wegen Nötigung (§ 240 I StGB), weil bei der Blockade Autofahrende an der Weiterfahrt gehindert wurden und wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB), wobei die Gerichte die Widerstandshandlung darin sahen, dass Irma Trommer sich mit Sekundenkleber an der Straße festgeklebt hat. Dies sind in Berlin die gängigen Vorwürfe gegen Aktivist:innen der Letzten Generation.

Die Verfassungsbeschwerde rügt die Verletzung von Grundrechten. In den vorangegangenen Entscheidungen wurde nicht hinreichend gewürdigt, dass die Blockaden im Rahmen einer nach Art. 8 GG grundrechtlich geschützten Versammlung stattfanden und die Anwendung des § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) auf das Festkleben an der Straße den Tatbestand des Deliktes so ausweitet, dass damit das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot für Strafgesetze verletzt ist.
Die ordentlichen Gerichte weigern sich außerdem bis dato bis in die letzten Instanzen, Grundsätze der Abwägung von Rechtsgütern im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung einer vermeintlichen Nötigung, die das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, im Rahmen gewisser Protestbewegungen und -formen anzuwenden.

Wir haben in den letzten zwei Jahren der rechtlichen Betreuung die volle Bandbreite an rechtlicher Ahndung von Straßenblockaden der Letzten Generation erlebt: Von vereinzelten Freisprüchen, Einstellungen mit und ohne Auflagen, über unzählige Geldstrafen bis hin zu Haftstrafen auf Bewährung und zuletzt 16 Monate Haft ohne Bewährungsmöglichkeit. Zum Teil beobachten wir monatelanges Gerichte-Ping-Pong, in dem Amtsgerichtsurteile über Landgerichte vor den Oberlandesgerichten landen und wegen Verfahrensfehler zurück ans Amtsgericht gegeben werden. Für die Betroffenen ist dieses Prozedere eine Tortur und birgt große Unsicherheit bezüglich zu erwartender Konsequenzen, sagt Lilly Schubert, Pressekontakt vom RAZ e.V.

Die Rechtslage zu Straßenblockaden ist nicht eindeutig, auch wenn dies immer wieder von Politiker:innen oder in medialen Vorverurteilungen gesagt wird, die schnellere und teils härtere Verurteilungen fordern. Es bestehen grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen zur Reichweite des Grundrechts auf  Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). Ungeklärt sind zudem die Auswirkungen anderer Verfassungsgrundsätze: Muss etwa die Verpflichtung der Regierung zum Schutz der Lebensgrundlagen heutiger und zukünftiger Generationen, die sich aus Art. 20a GG i.V.m, den Grundrechten und dem menschenrechtlichen Anspruch auf effektiven Klimaschutz aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, von den Strafgerichten bei Klimaprotesten in der Verwerflichkeit berücksichtigt werden? Art. 8 GG gewährt außerdem allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Anmeldung oder staatliche Erlaubnis zur öffentlichen Meinungskundgabe zu versammeln. Hier sind auch Demonstrationen gemeint, die den Verkehr stören und als nervig empfunden werden.Grundrechtsbetätigung und offene Protesträume in Deutschland sind Wesensmerkmale unserer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft. Die intensive, höchstrichterliche Auseinandersetzung mit diesen im Kontext der Klimakrise und der Protestform der Straßenblockade ist höchste Zeit, findet Klageführerin Irma Trommer: 

Die Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen. Wir sind optimistisch, dass im Angesicht der tausenden noch laufenden Verfahren gegen Klimaaktivist:innen und der Besorgnis über die wachsenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in Europa und weltweit, das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung in der Sache treffen wird.

Rechtliche Hintergründe und Begründung der Beschwerde

Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG gewährt allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Anmeldung oder staatliche Erlaubnis zur öffentlichen Meinungskundgabe zu versammeln. Natürlich hat auch die Versammlungsfreiheit Grenzen, insbesondere die Strafgesetze wie § 240 StGB. Inwieweit der Tatbestand der Nötigung überhaupt erfüllt ist, wenn man sich einfach nur an einem Ort aufhält, den ein anderer betreten oder befahren will, ist bereits strittig, wenn auch nicht Kernpunkt der Verfassungsbeschwerde. Vielmehr ist das Problem, dass die Nötigung ein so uferlos formulierter Tatbestand ist, dass der Gesetzgeber sich dazu entschieden hat, nur Nötigungen unter Strafe zu stellen, die besonders verwerflich sind (§ 240 Abs. 2 StGB).

Das Bundesverfassungsgericht hat, im Angesicht der Bedeutung der Versammlungsfreiheit, mehrfach betont, dass Straßenblockaden im Rahmen von Demonstrationen nur in Ausnahmefällen so verwerflich sind, dass man dafür bestraft werden könnte (BVerfGE 104, 92). Oftmals sind sie von einer freiheitlichen Demokratie zu akzeptieren, besonders wenn keine wichtigen Transporte verhindert werden, die Blockadedauer nicht sehr lang ist und ein besonderer Bezug der Blockade zum Anliegen der Versammlung besteht. Diese Erwägungen wurden aber von den Berliner Gerichten in diesem Fall, wie auch in anderen Bundesländern, in der Mehrheit aller Fälle in den letzten Monaten und Jahren, nicht hinreichend beachtet. Die Gerichte betonen dabei stets, keine politische Bewertung der Demonstrationen vornehmen zu dürfen. Allerdings dient die Verwerflichkeitsprüfung im Rahmen von § 240 StGB gerade dem Zweck, verschiedene Behinderungen danach zu unterscheiden, ob sie aus eigennützigen oder fremdnützigen Gründen geschehen, ob sie ein Anliegen betreffen, dass für die gesamte Gesellschaft relevant ist, oder nur einzelne betrifft.

Seit dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 157, 30) kann nicht mehr geleugnet werden, dass die besonders hohe gesellschaftliche Relevanz des Klimawandels verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Vor diesem Hintergrund wird hier nicht nur ein Einzelfall diskutiert. Es geht um die grundlegende Frage, wie viel Freiheit im demokratischen Prozess in seiner ursprünglichsten Form, der Form der Versammlungen, in unserer Gesellschaft gewährt wird. Diese Freiheit ist umso wichtiger, wenn das Anliegen der Protestierenden sich auf die Einhaltung von Verfassungswerten bezieht. Bei den Protesten der Letzten Generation geht es um den Schutz der Lebensgrundlagen im Sinne des Art. 20a GG, der unabdingbar ist für das friedliche Zusammenleben aller. In einer Zeit, in der Demokratien weltweit unter Druck geraten, hat die Frage, inwieweit bei Protestaktionen adressierte Verfassungswerte im Strafrecht zu berücksichtigen sind, Bedeutung weit über die Kimagerechtigkeitsbewegung hinaus. Das Versammlungsrecht ist einer der Gradmesser für die Freiheit in einer Gesellschaft. Umso mehr, wenn die Menschen sich bei dessen Wahrnehmung für den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen im Rahmen der demokratisch verfassten Grundordnung einsetzen.

Ein anderes verfassungsrechtliches Problem ergibt sich für die Verurteilung nach § 113 StGB. Aus Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes geht das sogenannte Bestimmtheitsgebot hervor. Es garantiert, dass Strafgesetze deutlich formuliert sind und für die Bürger*innen, die sie befolgen müssen, im Vorfeld erkennbar ist, ob sie für ein bestimmtes Verhalten bestraft werden können. Darum ist es besonders wichtig, dass die Begriffe, die ein Gesetz verwendet, von den Gerichten nicht völlig anders interpretiert werden, als sie im alltäglichen Leben verwendet werden. Das gilt auch für den Begriff der Gewalt, der in § 113 StGB von entscheidender Bedeutung ist. Gewalt hat, so musste es in der Vergangenheit das Bundesverfassungsgericht immer wieder gegenüber den Strafgerichten betonen, in jedem Fall etwas mit körperlicher Kraftentfaltung zu tun. Wenn der Gesetzgeber ausdrücklich nur gewaltsamen Widerstand unter Strafe stellen will, dann dürfen die Gerichte nicht die Anforderungen an Gewalt so weit senken, dass am Ende doch jeglicher Ungehorsam gegenüber Polizeibeamten darunter fällt. Die Anwendung von §113 StGB auf den vorliegenden Fall (und perspektivisch übertragen auf weitere, ähnliche Fälle) wird diesem sogenannten „Tatbestandverschleifungsverbot“ nicht gerecht. Denn wer festgeklebt auf der Straße sitzt, übt gerade keine körperliche Kraftentfaltung gegen die Polizeibeamten aus, die ihn versuchen abzulösen. Die Gerichte versuchen im Falle der Verurteilungen auf Grundlage des §113 StGB das dadurch zu konstruieren, dass sie darauf verweisen, die Polizeibeamten müssten Gewalt ausüben, um Menschen von der Straße zu reißen, wenn es keine Lösungsmittel gäbe. Dies dreht aber gerade die Richtung der Gewaltanwendung um – es ändert nichts daran, dass man keine Gewalt ausübt, indem man rein passiv auf der Straße festgeklebt sitzt.

Zweite Verfassungsbeschwerde gegen Kriminalisierung von Sitzblockaden

Am 30. September 2024 erhob Susanne Brelowski gemeinsam mit ihren Anwälten, Matthias Schuster und Robert Brockhaus, sowie dem RAZ e.V. Verfassungsbeschwerde gegen die strafrechtliche Verurteilung wegen einer friedlichen Sitzblockade mit der Letzten Generation. Der Green Legal Impact unterstützte in diesem Fall bei der juristischen Ausarbeitung – ihre Pressemitteilung vom 02. Oktober dazu kann hier nachgelesen werden.
Im September 2023 nahm Beschwerdeführerin Susanne Brelowski an einer Sitzblockade in Berlin teil. Die Gerichte verurteilten sie folglich wegen Nötigung in Mittäterschaft (§§ 240, 25 Abs. 2 StGB). Die Verfassungsbeschwerde wurde, wie schon die erste, auf Grundlage der erstarkenden Delegitimierung friedlichen Klimaaktivismus erhoben.

„Die Straßenproteste stehen für mich in einer demokratischen Tradition: Der ‚Brokdorf-Beschluss‘ des Bundesverfassungsgerichtes von 1985 ermöglicht den sogenannten kleinen Leuten, sich über das Recht auf Versammlungsfreiheit und Sitzblockaden zu äußern.“

In Falle der aktuellen Beschwerde liegt der Fokus auf dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Inhaltlich geht es außerdem um die Grundrechtsausübung in Zeiten der Klimakatastrophe und um eine Bewertung der Verurteilung nach der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“. Die Sanktionierung von Sitzblockaden durch die bisherige Rechtsprechung schränkt die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig ein. Auch da bei Verurteilungen friedliche Straßenblockaden als Gewalt eingestuft werden, sind diese im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG äußerst umstritten.

Trotz dieser Streitigkeiten konnte im Laufe des Jahres 2014 eine Verschärfung der Urteile gegen Klimaaktivist*innen in Deutschland beobachtet werden. Dazu erläuterte Ronen Steinke, Journalist und Jurist, in einem Podcast zur ersten Verfassungsbeschwerde im August:

„Das ist eine Härte, die hätte man sich vor 2 Jahren nicht träumen lassen. Da hat sich etwas extrem zugespitzt. Es gibt nicht wenige in der Justiz, die wollen jetzt so lange auf die Pauke hauen, so lange auf schärfere Strafen drängen, bis die Aktivisten und Aktivistinnen klein beigeben“

Die vom uns koordinierten Verfassungsbeschwerden sind nicht zuletzt Reaktion auf diesen Trend immer weiter auseinanderdriftender und unverhältnismäßig harter Urteile. Viel wichtiger ist jedoch: Eine Strafbarkeit von Sitzblockaden ist keineswegs zwingend, wie ein Blick ins Ausland zeigt, wo z.B. in Österreich in der Handlung der Blockade keine Gewaltausübung gesehen wird.

Sitzblockaden spielen eine zentrale Rolle im Aktivismus, indem sie durch gewaltfreie Störungen des gewohnten Alltags die öffentliche Aufmerksamkeit auf die drohende Gefahren oder Probleme lenken. Ziviler Ungehorsam in dieser Form ist ein entscheidendes Mittel, um die Dringlichkeit des Handelns zu verdeutlichen. Doch anstatt auf die Alarmrufe der Aktivist*innen zu reagieren, setzen staatliche Institutionen auf Strafverfolgung, was die Legitimität der friedlichen Proteste in Frage stellt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Chance, ein klares Signal für den Schutz der Versammlungsfreiheit und die Bedeutung der verfassungsrechtlich verankerten Klimaschutzpflichten des Staates zu setzen.

Weitere rechtliche Einordnung

Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG gewährt allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Anmeldung oder staatliche Erlaubnis zur öffentlichen Meinungskundgabe zu versammeln. Natürlich hat auch die Versammlungsfreiheit Grenzen, insbesondere die Strafgesetze wie § 240 StGB. Inwieweit der Tatbestand der Nötigung überhaupt erfüllt ist, wenn man sich einfach nur an einem Ort aufhält, den ein anderer betreten oder befahren will, ist bereits strittig. Problematisch ist auch, dass die Nötigung ein so uferlos formulierter Tatbestand ist, dass der Gesetzgeber sich dazu entschieden hat, nur Nötigungen unter Strafe zu stellen, die besonders verwerflich sind (§ 240 Abs. 2 StGB).
Die Strafgerichte haben außerdem die Bedeutung und Gewichtung der Versammlungsfreiheit verkannt, hier verstärkt durch Art. 20a GG als Staatszielbestimmung und die in Verbindung mit den Grundrechten daraus folgenden Ansprüche auf intertemporale Freiheitssicherung. Einfacher ausgedrückt: Das Mittel zivilen Ungehorsams – die kurzzeitige Sitzblockade – ist im Verhältnis zu dem verfolgten Zweck, für Klimaschutzmaßnahmen zu demonstrieren, nicht als verwerflich anzusehen.
In diesem Fall rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 2 GG. Denn die Verurteilung überschreitet jedenfalls wegen der breiten Lücke in der Blockade den Wortlaut der §§ 240, 25 Abs. 1 Alt. 2 GG (Bezugnahme zu einer Lücke in der Blockade selbst, durch die das Durchfahren der Autos möglich gewesen wäre). Die insoweit äußerste Grenze einer möglichen Strafbarkeit ist jedenfalls dann überschritten, wenn für die Normadressat*innen nicht mehr erkennbar ist, welche Form der psychischen Einwirkung auf die Fahrer*innen der ersten Reihe ausreicht, um den Tatbestand der „Gewalt“ zu erfüllen. Der konkrete Fall veranschaulicht plastisch, wie weit sich die strafgerichtliche Rechtsprechung von einer klaren Umgrenzung eines Tatbestandsmerkmals entfernt hat. Dass die Bewertung von Sitzblockaden durch die Strafgerichte dementsprechend auch teils erheblich divergiert, hebt anschaulich die von der Beschwerdeführerin gerügte Unbestimmtheit der strafgerichtlichen Rechtsprechung hervor.
Die Verfassungsbeschwerde muss vom Bundesverfassungsgericht zunächst zur Entscheidung angenommen werden.

FAQ zu den Verfassungsbeschwerden der Letzten Generation

Wir leben doch in einer Demokratie? Warum ist die Versammlungsfreiheit so wichtig, wenn man auch wählen gehen kann?

Wahlen sind kein Gegensatz zu einer aktiven Zivilgesellschaft – sondern setzen diese sogar voraus! Demokratische Wahlen funktionieren nur vor dem Hintergrund von Meinungsbildung, die nicht nur innerhalb von etablierten Parteien geschehen kann. Sonst könnten neue Ideen und geänderte Präferenzen erst über Jahrzehnte hinweg ihren Weg in den Meinungsbildungsprozess finden. Zahlreiche Errungenschaften der Nachkriegszeit, die wir heute für selbstverständlich halten, wurden erst dann als politische Themen ernst genommen, nachdem man sie sichtbar auf die Straße getragen hatte. Dies gilt umso mehr bei Anliegen, wie dem Klimawandel, der sich innerhalb einer einzigen Legislaturperiode so stark verschlimmern und selbst verstärken kann, dass jede Eindämmung um ein Vielfaches schwieriger, wenn nicht unmöglich wird.

Wollt ihr mit eurer Verfassungsbeschwerde erreichen, dass die Gesetze nicht für Klimaaktivist*innen gelten? Ist das nicht gegen den Rechtsstaat?

„Wir leben in einem Rechtsstaat!“ – Diese Feststellung wird von manchen Politiker*innen immer wieder angeführt, um gewaltlosen Widerstand zu kriminalisieren. Das offenbart einige grundsätzliche Missverständnisse über den Charakter des Rechtsstaatsprinzips, das aus Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes abgeleitet wird.

Zunächst ist das Rechtsstaatsprinzip an sich schon kein gutes Argument dafür, ob eine bestimmte Handlung strafbar ist oder nicht. Das Rechtsstaatsprinzip schreibt (unter anderem) vor, dass die Handlungen des Staates, also auch Gerichtsurteile, sich in erster Linie nach den vom Parlament beschlossenen, geschriebenen Gesetzen richten müssen. Aber es schreibt nicht vor, dass man die Gesetze besonders ungünstig für Beschuldigte auslegen müsste, oder dass der Staat „law and order“-Populismus betreiben müsste. Wir sind der Ansicht, dass Straßenblockaden in der Regel nicht strafbar sind, und zwar gerade aufgrund derjenigen Gesetze, die es schon gibt. Und zwar insbesondere aufgrund des Grundgesetzes, das in Artikel 8 Absatz 1, besagt:

Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Das sollte für Klimaaktivist:innen genauso gelten wie für Landwirt:innen.

Hat das Bundesverfassungsgericht nicht die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH bestätigt? Ist damit nicht alles geklärt?

Gleich in dreifacher Hinsicht: nein!

Die sogenannte Zweite-Reihe Rechtsprechung des BGH befasste sich mit der Frage, ob eine Straßenblockade überhaupt Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes darstellen könnte. Diese Frage halten wir zwar immer noch nicht für endgültig geklärt, sie ist aber jedenfalls nicht Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerde.

Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil, dass die prinzipielle Möglichkeit von Verurteilungen im Rahmen der Zweite-Reihe-Rechtsprechung bejaht, besonders betont, dass dies nichts an der Notwendigkeit einer ausführlichen Verwerflichkeitsprüfung ändert. Es hat also nur gesagt, dass Straßenblockaden (ausnahmsweise) strafbare Nötigungen sein können, aber keinesfalls dass sie in der Regel strafbar sein müssen.

Die Zweite-Reihe-Rechtsprechung knüpft an die Blockade derjenigen Autos an, die in einem Stau hinter den ersten Autos stehen. Für den Gewaltbegriff in § 113 StGB ist das unerheblich. Dieser Straftatbestand schützt nämlich nur Vollstreckungsbeamte bei ihrer Tätigkeit. Hierbei geht es also nicht um den Stau, sondern nur um die Ablösung von Aktivist*innen durch die Polizei. Ob darin Gewalt der Aktivist*innen (!) zu sehen ist, beantwortet die Zweite-Reihe-Rechtsprechung nicht. Es ist auch unter verschiedenen Gerichten umstritten.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Bundesverfassungsgericht sich überhaupt mit den Fällen beschäftigt?

Allgemein werden nur sehr wenige Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung angenommen, man spricht von ca. 1,5%. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen stellen eine hohe Hürde dar, was auch verständlich ist: das Bundesverfassungsgericht gehört nicht zum normalen Instanzenzug, sondern greift nur im Ausnahmefall ein, um die Rechtsprechung der anderen Gerichte bei Verletzung von Verfassungsrecht zu korrigieren. Die Fälle von Straßenblockaden im Rahmen von Klimaaktivismus sind aber besonders grundrechtssensibel. Sie stehen im Zentrum von Auseinandersetzungen rund um das Konfliktverhältnis zwischen dem demokratischen Ideal einer aktiven Zivilgesellschaft und dem autoritären Legalismus, hinter dem sich Politik und Justiz aktuell verstecken, indem sie Protest lieber in die Kriminalitätsstatistik aufnehmen, als politischen Dialog zu führen. Darum halten wir es nicht für unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich zu dem Thema äußern wird.