Beschleunigte Verfahren

Beschleunigte Verfahren am AG Tiergarten

Wir leben in einer Zeit, in der “Rechtsstaat” nur noch “Recht und Ordnung” bedeuten soll und in Vergessenheit gerät, dass der Rechtsstaat auch Instrument einer wehrhaften Demokratie sein muss, um nicht zum autoritären Unrechtsstaat zu verkommen.

Zahlreiche Menschenrechtsberichte äußern Besorgnis über die zunehmende Unterdrückung von legitimem Protest – insbesondere Klimaprotest. Amnesty International und der Civicus Monitor stufen die demokratischen Freiheiten in Deutschland erstmals als “beschränkt” ein. 

Hier zeigt sich wie wichtig es ist eine Rechtshilfestruktur zu haben, die genau auf diesen Bereich spezialisiert ist und in enger Zusammenarbeit mit den Aktivist*innen und Engagierten, Wege findet zivilgesellschaftliche Räume zu verteidigen.

Im Juni 2023 schuf das Amtsgericht (AG) Tiergarten in Berlin 5 Abteilungen für beschleunigte Verfahren, die alsbald als “Sondertribunal” kritisiert wurden.

Nur wenige Wochen nachdem Kai Wegner (CDU), der amtierende Bürgermeister von Berlin, verkündet hatte: „Ich will beschleunigte Verfahren für die Klima-Kleber einführen, damit wir hier zu schnellen Urteilen kommen.“ (Quelle) wurden diese neuen Abteilungen geschaffen.

Diese waren nur für beschleunigte Verfahren zuständig, die von der Staatsanwaltschaft beantragt wurden. Das betraf de facto ausschließlich Fälle der Letzten Generation und zwei von Extinction Rebellion. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) gab in einer gemeinsamen Erklärung mit der Berliner Strafverteidiger:innen Vereinigung zu bedenken, dass die Art und der Umstand der Änderungen in den Geschäftsverteilungsplänen den Eindruck einer Sonderzuständigkeit in der Berliner Justiz für die Letzte Generation erweckten. Das Recht auf einen gesetzlichen Richter nach Artikel 101 Grundgesetz (GG) sei damit „konkret gefährdet“. Auch die Neue Richtervereinigung (NRV) beäugte vor allem die Differenzierung nach der antragstellenden Behörde am Amtsgericht Tiergarten kritisch und warnte vor einer faktischen „lex Klimakleber“.

Alarmiert von der Nachricht, dass nun auch prozessual rechtsstaatliche Prinzipien abgebaut werden (und direkt auch noch das gesamte Prinzip der Gewaltenteilung in Frage gestellt wird…), trafen wir uns mit Anwält:innen aus Berlin, um eine geeignete Strategie zu besprechen. 

Die Mission war klar: wir wollen der Justiz unter die Arme greifen bei der Erkenntnis, dass Straßenblockade-Verfahren nicht zur Bearbeitung im beschleunigten Verfahren geeignet sind. Es sind viele Beweise zu erheben und schwierige Abwägungen von Grundrechten notwendig. Ein halbstündiges oberflächliches Verfahren, wie es z.B. für kleine Ladendiebstähle angewandt wird, darf hier nicht angewandt werden.

Nach einiger Diskussion und Austausch mit Anwält:innen aus unserem Netzwerk entschieden wir, dass wir in den ersten beschleunigten Verfahren in Berlin pro angeklagter Person 3 Anwält*innen als Verteidigung einsetzen würden. Gemeinsam stellten wir eine bunte Sammlung prozessualer Anträge zusammen, die nun die reine Durchführung “beschleunigter” Verfahren sehr erschweren sollte. Wir waren entschlossen, es nicht zuzulassen, dass die Rechte der angeklagten Person im Dienste der “effektiven Prozessführung” aufgrund “prozessökonomischer Überlegungen” außer Acht gelassen werden.

So konnte sichergestellt werden, dass den Richter*innen der neuen Abteilungen klar war, dass es nicht funktionieren würde, Menschen am Fließband für ihr Engagement zu verurteilen. 

Nach einer Weile reduzierten wir auf zwei Anwält:innen pro angeklagter Person, da mittlerweile geklärt war, dass die meisten Fälle grundsätzlich ungeeignet waren. So konnten wir Kapazitäten einsparen, ohne dass es zu schnellen Verurteilungen kam. 

Einige beschleunigte Freisprüche ließen wir allerdings durchgehen, auch wenn die Existenz der “Spezialabteilungen” nach wie vor problematisch war.

Wir informierten die Aktivist:innen über die “Spezialabteilungen” und klärten über beschleunigte Verfahren auf – besonders die kürzeren Ladungsfristen wurden gelegentlich zur Herausforderung. Zum Teil wurden Menschen aus anderen Bundesländern einen Tag vor Verhandlung zum Prozess geladen.

Auch die Vorbereitung der angeklagten Personen auf diese Prozesse ist durch die Kürze der Zeit besonders herausfordernd. So organisierten wir eine Reihe von verkürzten Prozesstrainings, die an einem Nachmittag auf das beschleunigte Verfahren vorbereiteten. Hier wurden potentiell betroffenen Aktivist:innen die Besonderheiten der Verfahrensart, sowie der Ablauf einer solchen Hauptverhandlung und strategische Überlegungen zur Überführung ins Regelverfahren nahegebracht.

Nun hat das AG Tiergarten die Abteilungen wieder abgeschafft. Der Versuch, Engagierte der Letzten Generation im Schnellverfahren zu verurteilen, ist weitestgehend gescheitert. (Quelle)

Die Statistik der Staatsanwaltschaft Berlin zur Schließung der Abteilungen attestiert uns einen Erfolg!

Nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft sind von 149 dieser Schnellverfahren 137 weiterhin offen. Seit Juni (also innerhalb von 7 Monaten) wurden demnach nur elf Urteile gefällt – sieben Geldstrafen und vier Freisprüche. Nur die Freisprüche sind bislang rechtskräftig. Weitere 48 Anträge der Staatsanwaltschaft auf beschleunigte Verfahren seien abgelehnt worden. (Quelle)

“Der Rechtsstaat hat sich gegen ‘politische, von populistischem Aktionismus getriebene Forderungen’ aus der Tagespolitik durchgesetzt.” zitiert die Tagesschau den RAV. Das stimmt. Aber wir haben auch ein bisschen nachgeholfen!

Unser Erfolg im Kampf gegen die beschleunigten Verfahren ist ein gutes Beispiel für die Anwendung von strategischer Prozessführung in der Breite. Durch gute Kommunikation und Abstimmung unter den Anwält:innen und ausführliche Vorbereitung und Information der Betroffenen, können über hunderte und perspektivisch tausende Verfahren hinweg gewisse Argumente in den Vordergrund gerückt werden oder prozessuale Rechte gezielt genutzt werden.

Gerade in Zeiten multipler Krisen brauchen wir eine starke Zivilgesellschaft, die sich nicht in die Verdrängung zurückzieht, sondern mutig für eine gerechte Zukunft eintritt. 

Unser Erfolg im Umgang mit den beschleunigten Verfahren und neu eingesetzten Gerichtskammern am Amtsgericht Tiergarten zeigt, dass es sich lohnt, den Protest auch in die Gerichte weiterzutragen und aktiv mit Repression und Kriminalisierung umzugehen. Das Engagement für eine lebendige Demokratie und eine gerechte Gesellschaft, für Rechtsstaat und für Freiheit setzt sich in den Gerichten fort und gemeinsam können wir hier viel erreichen.