Menschen gegen Öl: Anklageerhebung im Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung

21. Mai 2024

Heute, am 21. Mai 2024, erreichte die Anklageschrift im Verfahren gegen die Letzte Generation wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung die Anwält:innen der fünf Angeklagten: Mirjam Herrmann, Lukas Popp, Henning Jeschke, Edmund Schulz und Jakob Beyer.

Die 236 Seiten lange Anklage nach § 129 StGB aus Neuruppin bestätigt: Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird tatsächlich der sog. Schnüffelparagraf gegen eine aktivistische Klimaschutzgruppe nicht nur zur Ermittlung und Einschüchterung eingesetzt, sondern tatsächlich auch eine Eröffnung des Verfahrens angestrebt. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Nun wird das Landgericht Potsdam in naher Zukunft darüber entscheiden, ob das Verfahren eröffnet wird.

In der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg heißt es, Anklage werde bei der Staatsschutzstrafkammer des Landgerichts Potsdam eröffnet wegen Angriffen gegen Raffinerieanlagen der PCK GmbH Schwedt und der MVL GmbH Schwedt, den Flughafen Berlin-Brandenburg und das Barberini-Museum in Potsdam im Zeitraum von April 2022 bis Mai 2023.

Im Zuge der Ermittlungen kam es in den letzten zwei Jahren bereits zu Hausdurchsuchungen, Telefone wurden abgehört, Spenden und die Webseite der Letzten Generation beschlagnahmt. Diesen Freitag, am 24. Mai 2024, sind die Razzien genau ein Jahr her.

Bis Anfang 2023 kam es, nachdem die ersten Hausdurchsuchungen auf Grundlage der Ermittlungen stattfanden, zu über 1.700 Selbstanzeigen an die Neuruppiner Staatsanwaltschaft.

Eine Gefahr für die aktive Zivilgesellschaft

Die Ermittlungen und die tatsächliche Anklage treffen nicht allein die Letzte Generation, Fridays for Future (bei denen im gleichen Zuge Hausdurchsuchungen stattfanden) oder Journalist:innen, deren Gespräche mit dem Pressetelefon der Letzten Generation abgehört wurden.
Diese Anklageeröffnung stellt einen Dammbruch dar, der die aktive Zivilgesellschaft als ganzes und somit unsere Demokratie gefährdet. Das sehen auch ein breites Spektrum der Bevölkerung wie auch Expert:innen so.

Im Zuge der Ermittlungen wurde vor einigen Monaten die Soli-Kampagne Menschen gegen Öl vom RAZ e.V. zur Begleitung des Verfahrens gegen die Letzte Generation ins Leben gerufen. Im Zuge dieser schrieben über 2000 Menschen öffentliche Stellungnahmen, in denen sie die mögliche Anklageerhebung scharf verurteilten. Hintergrund hierzu war die offizielle Frist zur Stellungnahme, die den Anwält:innen der fünf Beschuldigten gewährt wurde, bevor die Staatsanwaltschaft final über eine mögliche Anklage nach § 129 StGB entschied.

Stellungnahmen dieser Art können nicht nur die Beschuldigten und ihre juristische Vertretung verfassen: Unter den Verfasser:innen der Stellungnahmen sind unter anderem Rechtswissenschaftler:innen, Lehrer:innen, Doktor:innen, Handwerker:innen, Ingeneur:innen, Schüler:innen und Rentner:innen. Außerdem schickten auch Unternehmen, wie die GLS-Bank, der Mobilfunkanbieter WeTell, und die Stromanbieter EWS, Naturstrom und Green Planet Energy Stellungnahmen, sowie Pressemitteilungen und öffentliche Aufrufe zur Beteiligung. Des Weiteren beteiligten sich Vertreter:innen zahlreicher Organisationen und Vereine, wie Amnesty International und Greenpeace, an den eingereichten Stellungnahmen.
Auch Personen des öffentlichen Lebens äußerten sich kritisch der geplanten Anklage gegenüber. Darunter waren die Autorin Cornelia Funke, der Schriftsteller Marc-Uwe Kling, die Kabarettistin Anny Hartmann, die Aktivistin und Politiker Carola Rackete, Priester Jörg Alts SJ, sowie der Mitbegründer der KlimaUnion Heinrich Stößenreuther.

Die über 2000 Stellungnahmen wurden zum Ende der Frist von den beiden nun Angeklagten Mirjam Herrmann und Henning Jeschke in Form etlicher sortierter Aktenordner bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin abgeliefert.

Empörte Stimmen und scharfe Kritik von Jurist:innen und der UN

Nach eingereichter, formeller Beschwerde der fünf Angeklagten bei dem UN-Sonderberichterstatter für Klimaschützer:innen Michel Forst, hat auch dieser vor wenigen Wochen zugesagt, aufgrund seines Mandats unter der Aarhus-Konvention tätig zu werden und sich direkt an die Staatsanwaltschaft Neuruppin zu wenden.
Die Aarhus-Konvention ist ein Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten gewährleistet.

Auch Prof. Dr. Roland Hefendehl aus dem fachlichen Beirat von RAZ e.V. ist überzeugt davon, dass es falsch ist §129 StGB auf die Letzte Generation anzuwenden. Er hat neun Thesen aufgestellt, die juristisch fundierte Gegenargumente gegen eine Verfolgung der Letzten Generation nach §129 StGB kurz zusammenfassen.

Die Verteidigung der Angeklagten kritisiert die Anklageerhebung mit diesem Vorwurf scharf. Einer der Rechtsanwälte stellt klar: Weder verfassungsrechtlich, noch einfachgesetzlich sei die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung, wie der Gesetzgeber sie gemeint habe.

„Hier wird der Versuch unternommen, den Boten der wissenschaftlich fundierten Nachricht, nämlich dass nur wenige Jahre in der Klimakatastrophe bleiben, um klimaneutral zu werden, wenn Menschen in Zukunft noch auf der Erde leben wollen, zu kriminalisieren und damit mundtot zu machen.“

Das sagte die Rechtsanwältin von Henning Jeschke als erste Reaktion.

„Die politisch Verantwortlichen brechen das Recht, wenn internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz ignoriert werden“

ergänzte der Rechtsanwalt von Jakob Beyer. Seine Kollegin fügte an:

„Das wird ein langes Verfahren. Wir sind im Recht und wir werden für dieses Recht kämpfen.“

Die Verteidiger:innen stellen in Frage, warum tatsächlich gewaltsame Bauernproteste mit Traktoren und verunglückten Menschen anders behandelt werden als der friedliche Protest ihrer Mandant:innen.

„Unsere Aufgabe als Strafverteidiger:innen ist es, den vorschnellen und politisch geforderten Griff nach strafrechtlicher Sanktionierung zu verhindern. Das werden wir hier mit Überzeugung und Freude tun“,

schließen zwei der Rechtsanwälte.

Was kommt nun?

Der RAZ e.V. unterstützt die fünf nun Angeklagten juristisch wie auch emotional-psychologisch. Im Zuge der Kampagne Menschen gegen Öl wird weiterhin öffentliche Sichtbarkeit gegen diesen erschreckenden Schritt der Staatsanwaltschaft Neuruppin geschaffen.
Die Letzte Generation veranstaltet im Zuge der Kampagne Menschen gegen Öl am 22. Mai 2024, dem Tag nach der Anklageerhebung, eine Versammlung in Berlin, bei die Angeklagten wie auch diverse Personen aus Kunst, Kultur, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ihr Wort erheben werden.

Verhandlungstermine sind bisher keine angesetzt. Es ist davon auszugehen, dass das Verfahren sich über Monate ziehen wird, in denen die fünf Beschuldigten sich wöchentlich zu Verhandlungen in Potsdam einfinden müssen.
Allein die Ermittlungsakten im Verfahren sind tausende Seiten lang.

Konkret droht den fünf Angeklagten eine Haftstrafe von bis zu 5 Jahren – die Konsequenzen der Ermittlungen sind aber viel weitreichender. Der Tatbestand im Paragraphen ist so weit gefasst, dass selbst kleinste Unterstützungshandlungen darunter fallen könnten. Kaffee kochen beim Gemeinschaftstreffen, Flyer verteilen für Vorträge, Grafikdesign für die Website: die Ermittlungen schaffen eine bedrohliche Atmosphäre, die Menschen von ihrem gesellschaftlichen Engagement abbringt.
Die häufig unscharfen Trennlinien zwischen verschiedenen Kampagnen und Organisationen schaffen noch mehr Unsicherheit.
Auch öffnet dieser erste Dammbruch Tür und Tor für Ermittlungen gegen weitere Gruppen, die sich für Gerechtigkeit und Demokratie und gegen Zerstörung und Unrecht einsetzen.