Vorgehen der Staatsanwaltschaft verfassungswidrig – AG Tiergarten lehnt beschleunigte Verfahren mit Beschluss ab
19. Februar 2024, 7 Uhr
Bewusster Regelbruch zum Erreichen der politischen Ziele – so lautet die Theorie des zivilen Widerstands. Von der Letzten Generation popularisiert, ist ausgerechnet die Berliner Justiz zur prominentesten Anhängerin geworden.
Wie vor einer Woche von der Letzten Generation angekündigt, blieben Aktivist:innen in der vergangenen Woche von den terminierten beschleunigten Verfahren am Amtsgericht Tiergarten fern. Es wurde öffentlich weiterer Boykott angekündigt. RAZ e.V.i.G. begleitet seit Anfang 2024 die intensiv und kritisch diskutierten beschleunigten Verfahren der Letzten Generation, die bereits seit vergangenem Sommer kurz nach Amtsantritt der, auf Wunsch der CDU ernannten, Justizsenatorin beim Amtsgericht Tiergarten eingesetzt wurden. Bis Anfang 2024 wurden die Verfahren direkt vom Legal Team der Letzten Generation begleitet.
Kritik über das Vorgehen der Berliner Staatsanwaltschaft kommt inzwischen auch aus dem Gericht selbst. In diesem Artikel fassen wir die Vorgeschichte der beschleunigten Verfahren bis zum Boykott eben dieser durch die Aktivist:innen der Letzten Generation zusammen und geben Einblick in die neusten Standpunkte des Amtsgerichts Tiergarten zur Frage der Verfassungswidrigkeit solch beschleunigter Verfahren.
Bedeutung gesetzlicher Richter:innen
Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hat jede:r das “Recht auf den gesetzlichen Richter”. Dies bedeutet, dass die:der zuständige Richter:in nach vorher festgelegten abstrakten Kriterien bestimmt ist. Die Unabhängigkeit der Gerichte soll geschützt werden, indem Verfahren etwa nicht durch die Staatsanwaltschaft auf von ihr ausgesuchte Richter:innen verteilt werden. Die Verteilungsregeln eines einzelnen Gerichts sind in dessen Geschäftsverteilungsplan festgelegt. Das Recht auf die:den gesetzliche Richter:in ist eine wesentliche Garantie eines Rechtsstaats und verhindert, dass Ausnahmegerichte errichtet werden, durch die Einfluss auf den Ausgang eines Verfahrens genommen wird.
Beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Tiergarten – Hintergründe
Das Amtsgericht Tiergarten ist das größte Strafgericht Europas und für alle Strafsachen in Berlin zuständig, somit auch für den Großteil der Verfahren gegen Aktivist:innen der Letzten Generation. Die Berliner Justiz ächzt unter der Aufgabe, all diese Verfahren unter Kontrolle zu bekommen.
Im Juni 2023 wurden die Geschäftsverteilungspläne der Amtsgerichts Tiergartens geändert und zwei Abteilungen geschaffen, die ausschließlich für Anträge von beschleunigten Verfahren der Staatsanwaltschaft Berlin zuständig sind. Zugleich nahm die Staatsanwaltschaft Berlin die Zuständigkeiten für beschleunigte Verfahren, die grundsätzlich bei der Amtsanwaltschaft lag, an sich – dies betraf fast ausschließlich Fälle von Straßenblockaden der Letzten Generation und anderen klimaaktivistischen Gruppierungen. Ein anders gelagertes Verfahren hatte sich dazwischen geschlichen. Dieser Zufall erstaunt nicht weniger, als dass kurz zuvor in Berlin auf Wunsch der CDU eine neue Justizsenatorin ernannt wurde. Diese ist weisungsberechtigt gegenüber der Staatsanwaltschaft und zuständig für die Organisation der Berliner Gerichte.
Damit wurde faktisch eine Sondergerichtsbarkeit geschaffen: Die Staatsanwaltschaft Berlin konnte nach Belieben auswählen, welche Verfahren gegen Aktivist:innen der Letzten Generation sie als beschleunigte Verfahren anklagt und hatte die Gewissheit, dass diese bei einer der beiden dafür zuständigen Abteilungen landen. Selbst, wenn diese als beschleunigte Verfahren ungeeignet waren, blieben diese Abteilungen dafür zuständig – das folgt aus § 419 Abs. 3 S. 1 StPO.
Das Legal Team der Letzten Generation arbeitete eng mit einer Vielzahl von Anwält:innen zusammen, um dieser Praxis Einhalt zu gebieten. Es wurde mitunter in einzelnen Verfahren mit drei Anwält:innen erschienen, um zu verhindern, dass die Betroffenen, die sich ein rechtsstaatliches Verfahren mit allen prozessualen Möglichkeiten wünschten, beschleunigt abgeurteilt werden. Anfang Januar 2024 waren von 149 Schnellverfahren 137 weiterhin offen. In sieben Fällen wurden die Aktivist:innen zu Geldstrafen verurteilt, in vier Fällen freigesprochen. Die Praxis zeigt also, dass sich die Verfahren selbst mit handverlesenen Richter:innen nicht dafür eignen, im beschleunigten Verfahren abgeurteilt zu werden. Mit dem neuen Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts Tiergartens für das Jahr 2024 wurden die beiden Spezialabteilungen daher abgeschafft und festgesetzt, dass die beschleunigten Verfahren auf 67 Abteilungen des Amtsgerichts Tiergartens aufgeteilt werden.
Verfahren der Staatsanwaltschaft nach Auflösung der Abteilungen
Die Staatsanwaltschaft Berlin nahm dies offenbar zum Anlass, Strafakten im Dezember 2023 unbearbeitet liegenzulassen. Im Januar 2024 hat sie dann unter Geltung des neuen Geschäftsverteilungsplanes an die Vielzahl der nun zuständigen Abteilungen des Amtsgerichts Tiergarten Anklageschriften im beschleunigten Verfahren übersandt. Das zeigt schon, dass es nicht um die Beschleunigung von Verfahren ging: Ein wochenlanges Zurückhalten von Anklageschriften trägt wenig zur eiligen Verfahrenserledigung bei.
Die Reaktionen der Richter:innen sind sehr unterschiedlich:
Teilweise geben sie den Anträgen unbeirrt statt und terminieren die beschleunigten Verfahren. Erstaunt hat etwa der Blick auf den Terminplan des Richters der 228. Abteilung des Gerichts am 25.01.2024. Hier wurden Aktivist:innen der Letzten Generation im 10-Minuten-Takt vorgeladen. Wie in 10 Minuten eine sinnvolle juristische Auseinandersetzung mit einer Protestaktion möglich sein soll, bleibt ein Geheimnis. Auch andere Abteilungen laden seit Jahresbeginn Aktivist:innen im großen Stil zu beschleunigten Verfahren vor. Ladungen treffen häufig nach oder unmittelbar vor dem Termin ein. Mal mit, mal ohne Anklageschrift.
Gemeinsam ist ihnen nur, dass es bei den Verfahren um Aktionen aus dem Herbst 2023 geht – ob es das ist, was der Gesetzgeber bei beschleunigten Verfahren im Sinn hatte?
Eine missbrauchte Art des Strafverfahrens – eine Einordnung
Die Durchführung eines beschleunigten Verfahren setzt nach § 417 StPO voraus, dass die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist. Es wird davon ausgegangen, dass dem Gesetzgeber bei der Eignung zur “sofortigen” Verhandlung ein Zeitraum von höchstens einigen Wochen vorschwebte. § 418 Abs. 1 S. 2 StPO stellt zudem klar, dass zwischen dem Eingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung nicht mehr als sechs Wochen liegen sollten – auch dieser Zeitraum wird bei Verfahren gegen Aktivist:innen der Letzten Generation nicht selten überschritten.
Von einem einfachen Sachverhalt kann bei Protesten von Klimaaktivist:innen nicht die Rede sein. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Vielzahl von Kriterien genannt, die für die Prüfung der Verwerflichkeit der Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB relevant sind. Die dafür maßgeblichen tatsächlichen Umstände müssen erst ermittelt werden. Zudem berufen sich die Aktivist:innen der Letzten Generation darauf, dass die Aktionen wegen rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB gerechtfertigt sind. Hier gibt es eine Vielzahl schwieriger Tatsachen- und Rechtsfragen. Auf welche Weise kann ziviler Ungehorsam auf politische Entscheidungsprozesse einwirken? Was ist als Notstandshandlung angemessen?
Rechtsanwalt Dr. Lukas Theune, Geschäftsführer vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e.V., findet:
„Die Staatsanwaltschaft Berlin täte gut daran, sich nicht dem politischen Druck zu beugen, sondern nach wie vor unabhängig die gewissenhafte Aufklärung des Sachverhaltes zu betreiben. Beschleunigte Verfahren eignen sich dafür nicht.“
Eingesetzt wurden die beschleunigten Verfahren für Fälle wie Ladendiebstähle und Erschleichen von Leistungen – bevor die Staatsanwaltschaft Berlin auf die Idee kam, sie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei spielt der Staatsanwaltschaft in die Karten, dass die Anberaumung einer Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren nicht durch die Beschwerde angreifbar ist und auch nicht dazu führt, dass ein Urteil deswegen auf eine Berufung oder Revision hin aufzuheben ist.
In beschleunigten Verfahren sind die Rechte der angeklagten Person in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Die Mindestladungsfrist beträgt statt sieben Tagen nur 24 Stunden. Die Möglichkeit, gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens Argumente vorzubringen, entfällt. Zudem ist die Beweisaufnahme in mehrfacher Hinsicht verkürzt: Beweisanträge können ohne Bindung an die Ablehnungsgründe des § 244 StPO abgelehnt werden (§ 420 Abs. 4 StPO) und die Vernehmung von Zeug:innen kann durch die Verlesung von früheren Protokollen ersetzt werden (§ 420 Abs. 1 StPO).
Boykott der beschleunigten Verfahren
Eine Vielzahl von Aktivist:innen der Letzten Generation entschlossen sich, ab Montag, dem 12.02.2024, nicht zu ihren beschleunigten Verfahren zu erscheinen. Die Gerichte sollten mit der Frage konfrontiert werden, ob sie wirklich zu Mitteln wie Vorführungshaftbefehlen greifen wollen oder akzeptieren, dass den Betroffenen normale Gerichtsverfahren mit allen prozessualen Möglichkeiten zustehen (https://letztegeneration.org/pm/anklagebank-bleibt-leer/). RAZ e.V.i.G. hat sie dabei durch Beratung, Koordinierung und Empowerment in jedem Schritt begleitet. Eine große Hilfe dabei war der Prozess-Support der Letzten Generation, der den ausgebliebenen Aktivist:innen berichtete, was im Gerichtssaal passierte.
Die Bilanz nach dieser Woche ist positiv. Von 15 RAZ e.V.i.G. bekannten Fällen, in denen die Betroffenen nicht zu den beschleunigten Verfahren erschienen sind, wurde in 12 Fällen ein Strafbefehl erlassen. Gegen diese Strafbefehle werden die Betroffenen Einspruch einlegen, worüber in voraussichtlich einigen Monaten verhandelt wird – wie in anderen Verfahren auch. Warum nicht gleich so? In einem Fall hat der Richter die Entscheidung im beschleunigten Verfahren im Termin abgelehnt. Dass etwa eine polizeiliche Vorführung angeordnet wurde oder gar ein Haftbefehl erlassen wurde, ist bislang nicht bekannt.
Dazu nimmt Zoë Ruge, Geschäftsführerin von RAZ e.V. i.G., Stellung:
„Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Gerichte die Einladung, in ein reguläres rechtsstaatliches Gerichtsverfahren mit allen prozessualen Möglichkeiten überzugehen, annehmen. Wir würden uns jedoch wünschen, dass die Gerichte selbst zu dieser Erkenntnis kommen und die Chaoszustände der Berliner Justiz nicht auf den Rücken von Aktivist:innen ausgetragen werden. Jede Ladung zu einem Gerichtsprozess ist für die einzelnen Aktivist:innen eine große Belastung. Dementsprechend wäre es deutlich einfacher, wenn die Staatsanwaltschaft in diesen Verfahren direkt einen Strafbefehl beantragt – oder alternativ die Gerichte die Anträge der Staatsanwaltschaft für die beschleunigten Verfahren ablehnen. Denn der aktuelle Umgang ist nicht haltbar.”
Irma Trommer, Aktivistin der Letzten Generation, ist nicht zu ihrem Termin am 14.02.2024 erschienen, obwohl sie nach § 232 Abs. 1 StPO darauf hingewiesen wurde, dass auch ohne sie verhandelt werden kann. Sie erklärt:
“Natürlich bin ich bereit, mit Namen und Gesicht zu meinem Protest zu stehen und die Konsequenzen meines Handels in Kauf zu nehmen. Die beschleunigten Verfahren ermöglichen jedoch keine fairen Bedingungen und sind einer Demokratie unwürdig. Mein Verfahren wurde in meiner Abwesenheit in ein Strafbefehlsverfahren umgewandelt. Gegen den Strafbefehl werde ich nun Einspruch einlegen und selbstverständlich zu dem sich anschließenden Gerichtsprozess erscheinen.”
Auf den Punkt gebracht: Wieviel Vertrauen bleibt in den Rechtsstaat und seine Institutionen, wenn das Gericht massenhaft Strafverfahren terminiert und gar nicht erwartet, sondern im Gegenteil darauf setzt, dass die Betroffenen nicht erscheinen, um dann einen Strafbefehl zu erlassen?
Ablehnung der beschleunigten Verfahren durch die Gerichte – Verhalten der Staatsanwaltschaft sei verfassungswidrig
Manche Richter:innen spielen das Spiel der Staatsanwaltschaft nicht mit.
Eine Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten stellt in einem Beschluss vom 24.01.2024 ((216/224 Ds) 231 Js 3639/23 (114/23)) fest, dass Verfahren wegen Straßenblockaden gegen Aktivist:innen der Letzten Generation aufgrund der zumeist streitig und kontrovers geführten Thematik des Klimawandels und der damit einhergehenden Frage etwaiger Rechtfertigungsgründe nicht für eine einfache und beschleunigt durchzuführende Verhandlung geeignet sind. Dabei stellt die Abteilung auch klar, dass das Verfahren erst im Jahr 2025 verhandelt werden kann. In einer anderen Sache merkt die Abteilung des Amtsgerichts Tiergartens daneben an, dass oftmals eine mehrtägige Verhandlung erforderlich sein wird.
Eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten lehnt mit Beschluss vom 26.01.2024 ((272 Ds) 231 Js 101/24 (12/24)) die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens ab und stellt klar, dass, wenn es um eine Aktion vom September 2023 geht, im Januar 2024 schon nicht von von einer Beschleunigung die Rede sein kann.
Mit einem bedeutenden Beschluss vom 31.01.2024 stellt das Amtsgericht Tiergarten fest, dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Berlin verfassungswidrig ist. In der Sache (272 Ds) 231 Js 3719/23 (17/24) wird die Entscheidung im beschleunigten Verfahren und darüber hinaus die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.
Aus Sicht des Gerichts liegt ein Verfahrenshindernis vor, da gegen das Gebot des gesetzlichen Richters verstoßen wurde. Das folge daraus, dass die Staatsanwaltschaft Verfahren aus letztem Jahr gezielt zurückgehalten hat, um sie erst dieses Jahr unter der Geltung des neuen Geschäftsverteilungsplan zur Anklage zu bringen. Dies sei willkürlich und rechtswidrig und ziele darauf ab, sich eine:n genehmen Richter:in auszusuchen. Der Verstoß gegen das Willkürverbot ist so gravierend, so das Gericht, dass er nicht geheilt werden kann.
RAZ e.V.i.G. begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Viele der anhängigen beschleunigten oder ehemals beschleunigten Verfahren laufen jedoch weiter, obwohl auch die für sie zuständigen Abteilungen zu dem Schluss kommen müssten, dass das beschriebene Prozesshindernis einem Strafverfahren entgegensteht. Die Berliner Justiz sollte durch den Beschluss angehalten werden, die endgültige Niederlage hinzunehmen und einen Schlussstrich unter die unselige Geschichte der beschleunigten Verfahren zu ziehen, bevor noch mehr Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Berliner Justiz verloren geht.
Hinweis: Im ursprünglichen Beitrag und in der Pressemitteilung wurde von „Justizsenatorin von der CDU“ bzw. „CDU-Justizsenatorin“ gesprochen. Dies haben wir nun geändert: Die Justizsenatorin wurde zwar auf Wunsch der CDU ernannt, ist jedoch parteilos.