Wegweisender Freispruch für Straßenblockade – Berücksichtigung der Intensität des Klimawandels und des Klimabeschlusses des BVerfG

Seit Ende Mai 2024 liegt die Urteilsbegründung für eine wegweisende Entscheidung des Amtsgericht Mainz vor.
Nach drei Verhandlungstagen in einem Verfahren wegen Nötigung gegen den 71-jährigen Abo T. sprach das Amtsgericht Mainz diesen frei, da die Straßenblockade kein nach § 240 Abs. 2 StGB verwerfliches Handeln darstellt. Abo ist mit der Letzten Generation auf die Straße gegangen, um auf die Untätigkeit der Bundesregierung im Bereich des Klimaschutzes aufmerksam zu machen.

Ausgangslage der Verhandlung

Bei der Abwägung, ob eine Straßenblockade als verwerflich einzustufen ist, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Auch ob ein Verfahren dieser Art verurteilt oder bspw. eingestellt wird, hängt unter Umständen auch vom Ausmaß der Verkehrsunterbrechung ab. Aus diesem Grund schildern wir hier kurz die Ausgangssituation der bei der Verhandlung behandelten Blockade. Wer sich nur für das Urteil und den Prozess selbst interessiert, kann zum nächsten Absatz springen.

Bei den Verhandlungen ging es um eine Straßenblockade der Letzten Generation, Nähe des Hauptbahnhofs in Mainz im Dezember 2022.
Bei dieser blockierten sechs Menschen zwei Spuren mit der Forderung nach einer Fortführung des 9-Euro-Tickets sowie einem Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Abo T. selbst war nicht angeklebt, um die Möglichkeit einer Rettungsgasse zu gewährleisten.

Im Verlaufe der Blockade wurde auch ein Rettungswagen problemlos durchgelassen, was positiv im Urteil erwähnt wird. Bei der Blockade entstand ein Stau von etwa 100 m, davor konnten Autos über Nebenstraßen ausweichen. Die Wartezeit für die tatsächlich blockierten Fahrzeuge betrug zwischen 30 und 60 Minuten, bis die Polizei die Blockade auflöste und auch diese Autos abfahren konnten.

Im Vorfeld der Blockade gab es eine Ankündigung, dass es Proteste der Letzten Generation geben würde; grobe Infos sickerten wohl auch über die Presse bereits an die Polizei, die aber nicht genau wusste, wo die Blockade stattfinden würde.

Der Prozess

Angeklagt wurde wegen Nötigung – aufgrund der Tatsache, dass Abo T. nicht angeklebt war, wurde auch kein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt, wobei dies auch beim Festkleben vorrangig in Berlin angezeigt wird. 

Der Freigesprochene protestierte neben den Forderungen der Letzten Generation auch für Frauenrechte im Iran, seinem Heimatland. Der ganze Prozess gestaltete sich nach Aussage des Wahlverteidigers Luca sehr persönlich: In seiner Einlassung zog Abo Verbindungen zu seinem Leben im Iran, in dem die britische Besatzung und die britische Förderung von fossilen Energien, insbesondere Öl im Land durch BP, eine große Rolle spielte. Abo erzählte auch, dass er bereits im Iran für sein Engagement mehrere Jahre in Haft saß.

Der Prozess zog sich über drei Termine, da die Richterin sich zum Evaluieren der Beweisanträge sowie zur Urteilsfindung einige Tage Zeit nahm. Von Seiten der Verteidigung konnte außerdem erwirkt werden, dass noch eine weiterer Zeuge geladen wurde. Die Zeugen sprachen zwar von unterschiedlicher, aber insgesamt relativ kurzer Wartezeit in ihren Augen. Teilweise hatten sie selbst keine Strafanzeige gestellt und sagten teils im Laufe des Verfahrens aus, zwar genervt gewesen zu sein, aber sich nicht genötigt gefühlt zu haben.

Letztlich sprach die Richterin den Angeklagten frei – es ist allerdings davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegen wird.

Berücksichtigung der Intensität des Klimawandels und des Klimabeschlusses des BVerfG

Die für die betroffenen Fahrzeugführer:innen entstandene Zeitverzögerung von 30 Minuten bis 60 Minuten sei zwar nicht unbeträchtlich, so das Gericht.
Jedoch bezog es ein, was von anderen Gerichten oftmals als „Fernziel“ bezeichnet und unberücksichtigt gelassen wird: Wie in dem „Klimabeschluss“ vom 27.03.2021 durch das Bundesverfassungsgerichts festgestellt wurde, hat Klimaschutz Verfassungsrang und lässt sich aus Artikel 20a GG ableiten. Das Gewicht der demonstrationsspezifischen Umstände ist nach dem Amtsgericht Mainz mit Blick hierauf zu bestimmen. 

Das Amtsgericht Mainz führt im Urteil aus:

„Damit hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass Sitzblockaden zur Einforderung eines wirksameren Klimaschutzes sich von dem bisher in der Rechtsprechung unter dem Aspekt der Nötigung behandelnden Sitzblockaden unterscheiden. […] Dabei verkennt das Gericht nicht, dass es sich zwar um eine politische Aussage handelt, die aber vom Bundesverfassungsgericht geteilt wird und sogar aus dem Grundgesetz hergeleitet wird. Es handelt sich somit um einen Verfassungsauftrag an die Regierungen bzw. den Gesetzgeber. Bei früheren Friedensdemonstrationen oder Anti-AKW-Protesten gab es diese eindeutige verfassungsrechtliche Vorgabe, wie sie nunmehr in der Klimaschutzentscheidung vom Bundesverfassungsgericht formuliert wurde, nicht. Daher kann für die entscheidenden Strafgerichte auch nicht die inhaltliche Neutralität bei der Verwerflichkeitsprüfung, wie sie für die anderen Inhalte vom Bundesverfassungsgericht gefordert wurde, gelten.“

Damit folgt das Amtsgericht Mainz in seinem Urteil auch der Argumentationslinie von Professor Dr. Christian Laue (Universität Heidelberg), welche er im Gutachten „Die Strafbarkeit von Sitzblockaden zum Klimaschutz als Nötigung – eine Analyse der Rechtsprechung“  auf 25 Seiten erarbeitet.

In einfach gesagt bedeutet das: Richter:innen argumentieren in Verfahren zu Straßenblockaden der Letzten Generation oft, dass sie nicht freisprechen können, “da ja sonst alle für ihre Ziele den Verkehr blockieren könnten – und das wollen Sie doch auch nicht”. Denn die Ziele der Straßenblockaden könnten nicht berücksichtigt werden vor Gericht, da die Entscheidung, welche Ziele legitim seien, kein Gericht treffen könne. In diesem Fall berücksichtigte die Richterin jedoch, dass sie selber diese Entscheidung gar nicht treffen muss: Klimaschutz hat auf Basis des Paragraphen 20a Grundgesetz (welcher im Übrigen erst seit den 90er Jahren existiert) und darauf aufbauend dem verfassungsgerichtlichen “Klimabeschluss” von 2021 Verfassungsrang. Ebenfalls wurde mit dem Pariser Klimaabkommen völkerrechtlich bindend beschlossen, dem Klimaschutz mit der Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels enorme Bedeutung zuzusprechen. Damit ist es keine politische Frage mehr, ob (mehr) Klimaschutz gemacht werden muss oder nicht, das Gericht muss diese Frage auch gar nicht beantworten oder die Antwort bewerten.

Die Richterin sprach nicht alleine deswegen frei – bei der sog. Verwerflichkeitsprüfung der Nötigung spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. So wurde auch berücksichtigt, dass die Verzögerung nur für eine begrenzte Zahl an Autos und nur für geraume Zeit stattgefunden hat. Auch spielte auch der sog. Sachbezug zwischen der Forderung der Protestierenden und dem Ort des Protests eine Rolle (Verkehrspolitische Forderungen auf einer Straße, auf der vorrangig Verbrenner-Autos fahren). Diese Verknüpfung zogen allerdings in der Vergangenheit auch schon andere Richter:innen (und verurteilten dennoch), die Einbeziehung der sog. Fernziele ist das, was dieses Verfahren so wegweisend macht.

Einschätzung der Wahlverteidigung zum Verfahren

Vertreten wurde der Freigesprochene durch Luca Thomas, der als Wahlverteidiger (auf Basis von § 138 StPO) bereits Verfahren der Letzten Generation verteidigt hat.

Der größte Unterschied zu anderen Verfahren sei in diesem Fall die Richterin gewesen:

“Es hat sich tatsächlich mal um ein rechtsstaatliches Verfahren gehandelt. Die Richterin war offen, es war kein Problem, mich als Wahlverteidiger zu beantragen. Sie hat unsere Argumente ernst genommen, hat bei den Beweisanträgen das Verfahren tatsächlich unterbrochen und sich mit diesen beschäftigt und vertagt. Mein Eindruck war, dass sie sich tatsächlich intensiv mit der Argumentation auseinandergesetzt hat, sonst suchen Richter:innen in meiner Erfahrung oft nach schnellen Argumenten, Dinge abzulehnen. Und kaum nimmt sich eine Richterin Zeit, sich wirklich mit den Argumenten der Verteidigung auseinanderzusetzen, zack kommt ein Freispruch dabei heraus!”