Gewahrsam in Hamburg war rechtswidrig – Beschwerde gegen 9 Tage Präventivhaft erfolgreich

Vom 29. März 2023 bis zum 06. April 2023 wurde Lennart W. in Hamburg in Gewahrsam genommen, nachdem er sich an Protesten der Letzten Generation beteiligte. Gegen diesen präventiven Gewahrsam legte er mit seiner Rechtsanwältin und dem RAZ Beschwerde ein – erfolgreich! Im Nachgang wurde im Juli 2024 der Gewahrsam als rechtswidrig eingestuft.

Am 28. März beteiligte sich Lennart an Protesten der Letzten Generation in Hamburg. Am Folgetag wurde von der Polizei ein Transporter gestoppt, in dem sich Aktivist*innen der Letzten Generation befanden – im Zuge dieser Kontrolle wurde Lennart in Gewahrsam genommen. Noch am selben Tag wurde durch die Freie und Hansestadt Hamburg, explizit die Behörde für Inneres und Sport sowie die Polizei Hamburg eine “richterliche Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung gemäß §13a SOG” (Sicherheits- und Ordnungsgesetz) beantragt – umgangssprachlich Präventivgewahrsam oder Präventivhaft. In Hamburg sind maximal 10 Tage möglich.
Am 30. März, einen Tag später, wurde er der Gewahrsamsrichterin vorgeführt. Diese genehmigte die Fortdauer der Maßnahme bis spätestens zum 06. April 2023, 18:00 Uhr, obwohl Lennart ihr gegenüber versicherte, dass er sich an keinen weiteren Protesten in Hamburg in der nächsten Zeit beteiligen und die Stadt verlassen wolle.
Knapp eine Woche nach der Entlassung legte Lennart gemeinsam mit seiner Anwältin Beschwerde beim Amtsgericht ein, von dem diese Entscheidung ausgegangen war. Dieses gab die Entscheidung weiter an das Landgericht Hamburg, woraufhin eine Begründung der Beschwerde durch die Rechtsanwältin Lennarts sowie zweimalige Stellungnahmen und eine Akteneinsicht folgten.

In der Urteilsbegründung heißt es unter anderem:

“Der Betroffene hat wegen des hohen Wertes des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, in welches durch die hier in Rede stehende Ingewahrsamnahme tiefreichend eingegriffen worden ist, ein gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG fortwährendes Rechtsschutzinteresse an einer gerichtlichen Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs.”

Wie bereits erwähnt ist die Grundlage einer präventiven Ingewahrsamnahme in Hamburg §
13 Abs. 1 Nr. 2 SOG. Demnach darf eine Person in Gewahrsam genommen werden,

“wenn diese Maßnahme unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat zu verhindern; die Begehung oder Fortsetzung steht insbesondere unmittelbar bevor, wenn die Person früher mehrfach in vergleichbarer Lage bei der Begehung einer derartigen Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat als Störer in Erscheinung getreten ist und nach den Umständen eine Wiederholung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit bevorsteht. […] Es müssen nachvollziehbare, bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird (OLG Celle, Beschluss vom 18. April 2023, 22 W 8/22, Rn. 28, juris). Bloße Vermutungen, vage Verdachtsgründe und ähnliches reichen hierfür nicht (vgl. OVG Nordrhein – Westfalen, Beschluss vom 8. Dezember 2011, 5 A 1045/09, Rn. 37; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. August 2022, 17 K 4838/20, Rn. 31, juris).”

Weiter wird in der Urteilsbegründung ausgeführt, dass die beschriebenen besonderen Anforderungen jedoch nicht erfüllt waren, und des Weiteren eine Ingewahrsamnahme auch nicht „unerlässlich“ war. Denn unerlässlich bedeutet, dass die angestrebte sog. Gefahrenabwehr

„nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., Rn. 45 ff. juris). Vor allem muss die Maßnahme dabei auch verhältnismäßig sein, um das beabsichtigte Ziel – die Unterbindung von Störungen durch weitere Aktionen der Klimaaktivisten – zu verhindern. Im Fall der sich regelmäßig wiederholenden Aktionen von Klimaaktivisten zeigt der Verlauf, dass in der Vergangenheit erfolgte Ingewahrsamnahmen weder die betroffenen Personen noch weitere Aktivisten von der Teilnahme an nachfolgenden Aktionen abgehalten haben.”

Man könnte argumentieren, dass eine Protestphase bis zum 06. April 2024 angekündigt war und daher die Präventivhaft geeignet war, Lennart von weiteren Protesten in dieser Zeit abzuhalten. Doch auch dieses Argument hebelt die Urteilsbegründung folgendermaßen aus:

“Typischerweise dient die Ingewahrsamnahme aber gerade für einen begrenzten Zeitraum der Verhinderung zukünftiger Taten dergestalt, dass nach Ablauf dieses Zeitraums die Umstände so verändert sind, dass weitere Taten jedenfalls viel weniger wahrscheinlich sind. Dies ist bei den Klimaprotesten nicht der Fall. Anders als bei konfliktträchtigen Fußballspielen oder politischen Ereignissen wie dem G20 – Gipfel in Hamburg, handelte es sich bei den im Frühjahr 2023 durch die „Letzte Generation“ angekündigten Protestaktionen in Hamburg um keinen sich aus äußeren Umständen ergebenden und hierdurch begrenzten Zeitraum, sondern war dieser Zeitraum von den Aktivisten frei gewählt und beliebig veränderbar.”

Unter Voraussetzung dieser Begründung lässt sich argumentieren, dass präventive Haft für Proteste, die nicht rein situations- oder ereignisbedingt stattfinden, grundsätzlich nicht rechtmäßig, da nicht geeignet sind – auch wenn eine Prüfung dessen jeweils am Einzelfall vorzunehmen ist.

Nicht nur der RAZ, auch weitere Organisationen kritisierten in der Vergangenheit immer wieder die Anwendung des Präventivgewahrsams gegen bspw. Klimaaktivist:innen und andere Aktivist:innen, der seine absurde Spitze in Bayern findet, wo Menschen bis zu 30 Tage unter dem sog. Polizeiaufgabengesetz (PAG), ohne bereits „etwas getan zu haben“, präventiv inhaftiert werden können.

Amnesty International schrieb dazu in einer Pressemitteilung vom 04. September 2024 unter dem Titel Deutschland: Präventivgewahrsam für Klimaschützer*innen ist klarer Verstoß gegen die Menschenrechte:

“Menschen über Wochen einzusperren, um sie davon abzuhalten an Protesten teilzunehmen, ist weder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen noch mit den Menschenrechten vereinbar. Dabei geht es offensichtlich nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Abschreckung. Und das darf in einem Rechtsstaat nicht die Antwort auf friedlichen Protest sein. Denn auch störender Protest ist von der Versammlungsfreiheit geschützt. […] Dieses Vorgehen basiert auf der Einschätzung der Polizei und von Haftrichter*innen, die meist nur wenige Minuten lang mit dem Fall befasst sind. Das ist klar ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit der Person. Die Betroffenen müssen ihr Leben unterbrechen, können im Nachhinein dafür stigmatisiert werden und leiden teils psychisch unter dem Freiheitsentzug.”

Die Kosten für den Gewahrsam (1594,66 Euro), die Lennart in Rechnung gestellt wurden, muss er nun ebenfalls nicht zahlen.

Es ist aus Sicht des RAZ enorm wichtig, solche Beschwerden (erfolgreich) zu führen. Denn auch wenn die Haft und die persönliche Erfahrung dort nicht rückgängig gemacht werden kann: Solche nachträglichen Urteile können für die Haftrichter:innen in erster Instanz richtungsweisend wirken. Insbesondere in einer Zeit, in der auf politischer Ebene ein erhöhtes Einwirken auf die Justiz und ein kriminalpolitischer Trend zu verzeichnen sind, wie erst jüngestens in einem Verfassungsblog-Artikel behandelt. Demnach ist es eine zu beobachtende Entwicklung,

“[…] zum Schutz konturloser Universalrechtsgüter immer neue Einzelfälle zum Anlass für Neukriminalisierungen und Strafverschärfungen zu nehmen, die eine fortschreitende Ausweitung des materiellen Strafrechts und zeitliche Vorverlagerung des strafrechtlichen Zugriffs in den Bereich von Gefährdungen zur Folge haben. Im Gewand abstrakter Gesetzessprache und mit dem Anschein politischer Neutralität zielen sie dabei häufig auf die selektive Verfolgung bestimmter Personengruppen ab. In solchen Strafgesetzen und Gesetzesvorhaben kommen zum Teil Entwicklungen zum Ausdruck, die von der Strafrechtswissenschaft, vor allem Frankfurter Provenienz, schon seit den 1980er Jahren kritisch begleitet und theoretisiert werden.”

Neben der juristischen Betreuung von Aktivist:innen besteht ein großer Teil unserer Arbeit beim RAZ aus der emotionalen und psychologischen Betreuung der Menschen. Eine präventive Inhaftierung kann währenddessen und vor allem auch im Nachhinein belastend sein, insbesondere auch, wenn noch rechtlich-bürokratische Arbeit folgt, wie das Schreiben von Stellungnahmen im Falle von Beschwerden. Unser EmPsy-Support kann Aktivist:innen in dieser Bewältigung unterstützen.