Neun Thesen zum § 129 StGB von Prof. Dr. Roland Hefendehl

Freiburg, 08.04.2024

Vorwort und Erläuterung von Mirjam Herrmann (RAZ e.V.)

Am 13.12.2022 fand die erste Razzia bei Unterstützer*innen der Letzten Generation auf der Grundlage von §129 StGB Bildung einer kriminellen Vereinigung statt. Seitdem wurde ermittelt, Telefone abgehört, Spenden und Webseite beschlagnahmt und schließlich die Anklage wegen §129 StGB gegen einzelne Unterstützer*innen angedroht.

RAZ e.V. hat das Bündnis Menschen gegen Öl initiiert, welches das Verfahren nach §129 StGB gegen die Letzte Generation begleitet. Weitere Infos zum §129 StGB und was bisher geschah, findet ihr auf der Website von Menschen gegen Öl. Die Anwendung des Paragrafen 129 auf die Letzte Generation als Bewegung, die friedlichen zivilen Widerstand im Klimanotstand sehr maßvoll einsetzt ist äußerst umstritten unter Jurist*innen. Umso erschreckender ist es, wie viel Einschüchterung und tatsächlicher Schaden schon während des Ermittlungsverfahrens entstanden ist – also bevor überhaupt geklärt ist, ob es okay ist, die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung zu verfolgen.

Prof. Dr. Roland Hefendehl sitzt im fachlichen Beirat von RAZ e.V. und ist überzeugt davon, dass es falsch ist §129 StGB auf die Letzte Generation anzuwenden. Er hat neun Thesen aufgestellt, die juristisch fundierte Gegenargumente gegen eine Verfolgung der Letzten Generation nach §129 StGB kurz zusammenfassen.

Neun Thesen zum § 129 StGB

von Prof. Dr. Roland Hefendehl, Mitglied des Fachlichen Beirats von RAZ e.V., Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht, Juristische Fakultät der Universität Freiburg

1. Vorverlagerung des Strafrechts

§ 129 StGB steht paradigmatisch für eine zunehmende Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes in solche Sphären, die nicht einmal mit einer abstrakten Gefährdung von hinreichend konkreten Rechtsgütern zu assoziieren sind und damit mit dem Strafrecht nichts zu tun haben dürften. Die schlichte Mitgliedschaft in einer negativ konnotierten Vereinigung löst den Strafvorwurf aus.

2. Unterlaufen des individuellen Schuldvorwurfs

Durch den Verzicht auf das Erfordernis eines individuellen Schuldnachweises im Hinblick auf eine konkrete Tat findet eine Abkehr vom Tatstrafrecht und eine Hinwendung zu einem Gesinnungsstrafrecht statt. Die Pönalisierung von Gesinnungen ist aber mit der Verfassung nicht in Einklang zu bringen. Anschauungen, die das Internum nicht verlassen, sind über das allgemeine Persönlichkeitsrecht grundrechtlich geschützt.

3. Ermittlungsparagraf

Angesichts der großen Diskrepanz zwischen eingeleiteten Ermittlungsverfahren und einschlägigen Verurteilungen liegt der Schluss nahe, dass die Norm Ermittlungsbehörden vor allem dazu dient, mit hilfe weitreichender strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen wie der Telekommunikationsüberwachung bei einem Anfangsverdacht nach § 129 StGB Erkenntnisse über bestimmte Gruppierungen zu sammeln, um diese anschließend anderweitig zu verwerten.

4. Politisches Strafrecht

Die extrem weite und unscharfe Tatbestandsfassung birgt die Gefahr, dass die Norm in der Praxis selektiv auf bestimmte missliebige Gruppierungen angewendet wird und somit zu einem Feindstrafrecht mutiert. Mit einer entsprechenden Kriminalisierung oder auch Maßnahmen, die unter Smart Repression fallen, gehen Abschreckungs- und Einschüchterungseffekte im Hinblick auf die Ausübung von Grundrechten einher („Chilling Effects“).

5. Self-fulfilling Prophecy

Das Labeln einer Gruppierung als „kriminelle Vereinigung“ kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen: Die dieser Gruppierung zugeschriebenen Straftaten steigen durch die Verwirklichung des § 129 StGB statistisch weiter an, die erwähnten Effekte einer solchen Kriminalisierung können zu einer weitergehenden Abschottung und Radikalisierung der Mitglieder führen.

6. Verfassungskonforme Reduktion

Wer unter diesen Voraussetzungen § 129 StGB nicht bereits aus guten Gründen als unrettbar verfassungswidrig ansieht, muss die Norm zumindest in erheblicher Weise verfassungskonform einschränken. Dies hat bereits der Gesetzgeber in BT-Drs. 18/11275, S. 10 erkannt: „Aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Bedeutung von § 129 StGB als Katalogtat für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten folgt […], dass die von der Vereinigung geplanten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen.“

7. Ziviler Ungehorsam

Die Letzte Generation praktiziert zivilen Ungehorsam in Gestalt von Grenzüberschreitungen. Ungehorsam ist aber keine Kategorie eines legitimen Strafrechts, sondern eher ein Indiz gegen den Einsatz von Strafrecht. Gehorsam ist kein Rechtsgut. Eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit (vgl. These 6) herbeireden zu wollen, ist schlicht unredlich.

8. Fernziele

Wer behauptet, Fernziele der Letzten Generation hätten außer Betracht zu bleiben, um das Strafrecht von politischen Diskussionen freizuhalten, verkennt zweierlei: Zum einen darf die Rettung des Klimas kein Fernziel sein, wenn man tatsächlich noch eine minimale Chance haben will. Zum anderen geht es nicht um eine politische Forderung, sondern einen Verfassungsauftrag, der mittlerweile über Art. 20a GG seit knapp 30 Jahren im Grundgesetz verankert ist und durch den Klimabeschluss des BVerfG 2021 weiter geschärft wurde.

9. Verankerung im Strafrecht

Der Letzten Generation geht es nicht um die Begehung von Straftaten, sondern darum, die Gesellschaft zu einem Moment des Innehaltens oder Nachdenkens zu bringen. Sie nimmt die noch herrschende Sichtweise einer Kriminalisierung dieser Aktionen zivilen Ungehorsams in Kauf. Bei einer solchen Intention ist § 129 StGB bereits von seinen eigenen Voraussetzungen nicht anzuwenden. Denn die Begehung von Straftaten ist allenfalls „ein Zweck […] von untergeordneter Bedeutung“ (§ 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB).